Mein Weg: Zwischen Verantwortung und Zerbrechlichkeit

Start » Selbstfürsorge » Mein Weg: Zwischen Verantwortung und Zerbrechlichkeit

Mein Weg: Zwischen Verantwortung und Zerbrechlichkeit

Als Mutter von drei Söhnen habe ich mein Leben lang versucht, für alle da zu sein. Einer meiner Söhne rutschte in die Drogenabhängigkeit, der Jüngste musste schon als Kind zahlreiche Operationen überstehen. Mein Mann, zunehmend durch die Spätfolgen seines Diabetes beeinträchtigt, brauchte ebenfalls Unterstützung, und als meine Eltern pflegebedürftig wurden, wollte ich auch ihnen beistehen – die Verantwortung abzugeben war für mich nie eine Option. Dabei übersah ich, wie die Last allmählich zu einer kaum mehr tragbaren Bürde wurde, die mich immer weiter von mir selbst entfernte.

Nach außen war ich die „Starke“. Ich war stolz darauf, wenn man mich als belastbar und unermüdlich wahrnahm. In der Arbeit war mein Privatleben kein Geheimnis, was mich nur noch mehr anspornte, Leistung zu bringen und zu zeigen, dass ich auch unter größtem Druck funktioniere. Jede neue Herausforderung, jede Fortbildung nahm ich an – mehr, um den Erwartungen zu entsprechen, als für mich selbst.

Doch als mein Ältester durch die Drogen in den Strudel von Psychosen geriet und zum ersten Mal zwangsweise eingewiesen wurde, geriet alles aus den Fugen. Unberechenbare Verhaltensweisen, Notarzt- und Polizeieinsätze, Zwangseinweisungen – das alles brachte mich an meine Grenzen. Ich funktionierte weiter, hielt den Schein aufrecht, doch innerlich spürte ich, dass meine Kraft zu versiegen drohte.

Der erste Zusammenbruch kam plötzlich, im Job, nur kurz nach einer dieser Krisen. Ein Weinkrampf überfiel mich, mein Körper zitterte unkontrolliert, und voller Scham schloss ich mich auf der Toilette ein. Die Vorstellung, dass jemand mich so sah, war unerträglich. Als mein Chef schließlich an die Tür klopfte, brauchte ich alle Kraft, um mich zu überwinden und die Tür zu öffnen. Er brachte mich direkt zum Arzt – dort wurde ich zum ersten Mal krankgeschrieben. Eine Pause, die ich schon lange gebraucht hätte.

Ich kam in eine psychosomatische Reha und begann eine Verhaltenstherapie. Mit dem festen Willen, etwas zu ändern, kehrte ich zurück in meinen Alltag – doch dort war alles wie vorher. Nach außen wirkte ich bald wieder „belastbar“, aber innerlich fühlte ich mich zerbrochen.

Dennoch funktionierte ich noch zwei Jahre weiter – doch ohne Freude und zunehmend erschöpft. Ich mied Einladungen, schickte meinen Mann allein zu Feiern und konnte mich kaum noch mit Freunden treffen. Zu groß war der innere Schmerz, zu tief die Isolation. Die Vorstellung, mit anderen über normale Dinge zu sprechen, war für mich unerträglich.

Monatelang hielt ich es so durch, bis schließlich eine Situation kam, die ich nicht mehr bewältigen konnte. Der Gedanke, den nächsten Tag wieder mit verweinten Augen zur Arbeit zu gehen, war für mich so unerträglich, dass ich mich wie ferngesteuert fühlte. Ich fuhr zum Friedhof, zum Grab meiner jüngsten Schwester, suchte nach Trost – und gleichzeitig wollte ich einfach nur fliehen. An diesem stillen Ort, mit den Tabletten in meiner Hand, fühlte ich mich wie in Trance, nahm eine nach der anderen. Der Gedanke, dass meine Kinder, mein Mann, meine Familie mich brauchten, kam mir in diesem Moment nicht. Nur eines hämmerte in meinem Kopf: „Ich will nicht mehr.“

Meine Familie begann mich zu suchen, und es war schließlich mein jüngster Sohn, gerade 15 Jahre alt, der mich fand. Bis heute schmerzt dieser Gedanke tief.

Der Fall in die Dunkelheit

Nach diesem Zusammenbruch kam ich in die Allgemeinpsychiatrie – ausgerechnet auf die Station, auf der mein Sohn mit akuten Psychosen oft lag. Dass ich nun selbst, per richterlicher Verordnung, dort war, traf mich unvorbereitet. Ich zog mich in eine tiefe Dissoziation zurück; ein Schutzmechanismus, der mich von allem um mich herum abkapselte. Die Tage und Wochen verschwammen, fast wie in einem Nebel. Einzelne, vage Bilder sind alles, was mir davon geblieben ist.

Erst nach etwa zwei Wochen kehrte ich allmählich aus dieser Starre zurück – ein schmerzhaftes Erwachen. Mit der schonungslosen Ehrlichkeit der Ärzte und Pflegekräfte begann ich, langsam zu mir zurückzufinden. Sie konfrontierten mich mit der Realität, spiegelten mir Dinge, die ich lange verdrängt hatte. Dieser harte Spiegel war es, was ich brauchte.

Wachstum durch Loslassen – wie ich lernte, meine Grenzen zu wahren

Trotz der Erschütterung durch diese ehrliche Konfrontation begann ich, langsam neue Perspektiven zu entwickeln. Die Wochen auf der psychotherapeutischen Station waren wie ein ständiges Üben, mich selbst mit Mitgefühl zu betrachten, meine Schwächen anzunehmen und die Erwartungen anderer loszulassen. Schritt für Schritt fand ich heraus, dass wahre Stärke nicht darin liegt, immer stark sein zu müssen, sondern den Mut zu haben, auch die eigenen Grenzen anzuerkennen.

Diese Zeit hat mir klar gemacht, dass ich mir Pausen und Momente der Achtsamkeit zugestehen muss. Das bedeutete auch, nicht immer für alle erreichbar zu sein und die eigenen Bedürfnisse nicht ständig hintenanzustellen. Es fühlte sich anfangs seltsam und ungewohnt an, Hilfe anzunehmen und Grenzen zu setzen, aber ich begann zu verstehen, dass Selbstfürsorge kein Egoismus ist – im Gegenteil: Nur wenn ich gut für mich sorge, kann ich langfristig für andere da sein.

Die Unterstützung der Ärzte und Therapeuten half mir, meine eigene innere Stimme wieder wahrzunehmen und ihr Gewicht zu geben. Sie gaben mir Werkzeuge an die Hand, um den Alltagsanforderungen mit einer neuen Haltung zu begegnen. So fand ich langsam meinen Weg zurück ins Leben, mit neuem Mut und einer tieferen Einsicht in das, was ich selbst brauche, um mich nicht wieder in alten Mustern zu verlieren.

Nach zwölf Wochen wurde ich schließlich entlassen, doch es war nicht die Rückkehr in mein „altes“ Leben – es war der Start in einen bewussteren Alltag, in dem ich achtsam auf meine Bedürfnisse hören wollte. Die Arbeit begann jetzt erst richtig: In den kommenden Monaten und Jahren forderte das Leben mich immer wieder heraus, und jedes Mal musste ich die Entscheidung treffen, wie viel ich geben kann und wann ich eine Pause brauche.

Ja, es gibt Tage, an denen ich das Gefühl habe, ins Alte zurückzurutschen. Aber jetzt habe ich gelernt, rechtzeitig die Bremse zu ziehen und auf mich selbst zu hören. Das schulde ich nicht nur mir, sondern auch meiner Familie – denn nur, wenn ich selbst stabil bin, kann ich für sie da sein.

(Anja)