Erfahrungsexperte: Sören

Start » Perspektivenwechsel » Erfahrungsexperte: Sören

Interview mit Sören (34), suchterkrankt (polytox), Depression, Borderline-Persönlichkeitsstörung, im 4. Jahr abstinent lebend über Konsum, Gefühle, Familie, Reaktionen seines Umfelds, professionellen Hilfestellen und seine Motivation, clean zu werden. Zum Schluss gibt Sören noch Tipps an Eltern und seine Vorstellungen zu Prävention. Danke Sören für die Offenheit und diese tiefen Einblicke.

Wann war dein erster Probierkonsum? Und wie hat sich der Konsum weiterentwickelt?

Sören: Mein 1. Konsum [Alkohol] war bereits um das 12. Lebensjahr. Entstanden aus Coolness & Zugehörigkeit. Mit 13./14. war der Alkohol schon „normal“, am Wochenende, in der Fußball(Fan)szene und auf Feierlichkeiten mit Schulkollegen. Cannabis wurde die ersten Male probiert – war und wurde aber nie meine Dr@ge.

Wann hast du gemerkt, dass der Konsum nicht mehr zu kontrollieren ist? Und wann hast du das erste mal bewusst gegengesteuert?

Sören: Rückblickend habe ich von Anfang an die Kontrolle verloren bzw. nie erlernt. Ich war bei jedem Konsum & mit jeder Substanz derjenige, der es völlig übertrieben hat. Mit 15 ging es mit der 1. Alkoholvergiftung in die Notaufnahme, mit 17. mit der 1. Überdosis ins Krankenhaus. ICH PERSÖNLICH, BEWUSST gegengesteuert – erst mit Mitte 20, da bin ich das 1. Mal selber in die Entgiftung marschiert, weil Konsum mit Psyche und Suizidversuch kollidiert ist.

Was haben deine Eltern davon mitbekommen?

Sören: Viel – ich bin sehr provokant und öffentlich mit dem Konsum umgegangen. Heute weiß ich, dass mein Konsum AUCH Aufmerksamkeit einfordern wollte….

Was war dein Grund abhängig zu werden?

Sören: Mein Konsum und meine Substanzen hatten ihre Aufgaben, hatten einen Effekt, den ich gezielt gejagt und hervorgerufen habe. Betäubung der Gefühle, den Kopf ausschalten, sich selbst nicht mehr aushalten müssen, pushen … Damals ein wunderbarer Kreislauf, [pusher/downer] der meinen Körper bestimmt hat und ich selbst entscheiden konnte, wann welcher Effekt einsetzen soll….

Wie wichtig war dir die Beziehung zu deinen Eltern in dieser kritischen Phase?

Sören: Im Notfall [Entgiftung, Krankenhaus, Therapie] immer der letzte Strohhalm… Während des Konsums eher „Pflichtkontakt“. Die familiäre Geschichte hat viel mit meiner psychischen Erkrankung zu tun. Es gab viel Gewalt, Lautstärke, Ärger, Trauer, Unmut… Ich habe mich darin verloren & bin dennoch immer und immer wieder zur Familie zurück gerannt. Wo es leider immer und immer wieder am selben Punkt gescheitert ist….

Was hättest du dir in dieser Zeit von deinen Eltern gewünscht?

Sören: Was ich mir tatsächlich heute noch (unerreichbar) wünsche. Gesehen zu werden, mit all meinen Sorgen, Ängsten, Gefühlen und der damaligen Hilflosigkeit. Dieses ekelhafte „schön Gerede“ ,das „runter Gespiele“, das „stell dich nicht so an“, das ewige Versteckspiel und Verschleiere vor der Gesellschaft kotzt mich heute noch sooooo unglaublich an.

Gab es Gespräche über Drxgen mit deinen Eltern oder in der Schule oder mit anderen ? Wenn ja, wie war das für dich?

Sören: In der Schule gab es vereinzelt Auffälligkeiten, in die auch meine Eltern involviert waren [Vater war Hausmeister an meiner weiterführenden Schule]. Da mit 16 meine Ausbildung begann & ich in der Gastronomie meine Karriere begann, war das aber nie ein handlungswilliger Grund.

Der Konsum innerhalb der Gastronomie war bereits in der Ausbildung ein starkes Thema und eine tägliche Herausforderung. Mein 1. Ausbilder hat Auffälligkeiten bemerkt, viele Gespräche mit mir geführt, da ich aber eine Begabung für den Job als Koch mitbrachte, wurde nie groß gehandelt…

Wie hast du die professionellen Hilfestellen empfunden? Was hätte da anders bzw. besser laufen können? Und was war vielleicht auch gut und hilfreich?

Sören: „Damals“ natürlich nervig. Ich erinnere mich noch oft daran zurück, dass ich vom Fachpersonal erwartet und gerade schon verlangt habe, selbst erst mal einen problematischen Konsum zu erlernen, bevor sie mir Theorie beibringen wollen. Es war immer ein kleiner Anker, der kurz Halt gegeben hat. Nach den Entgiftungen Schutz geboten hat. Heute stehe ich in einer sehr offenen Haltung und Stellung zu den Fach- & Hilfestellen. Sie haben mir heute auf die richtige Bahn geholfen, halten mich oft noch in der Spur und allem voran haben sie mir und uns unsere Beziehung gerettet und unsere heutige Ehe ermöglicht!!

Ist deinem Umfeld der Konsum bekannt gewesen oder konnte das niemand mitbekommen, weil nach außen alles funktioniert hat?

Sören: Ich habe blended funktioniert, wurde immer besser und der Konsum immer härter. Der berufliche Erfolg schoss durch die Decke. 24 und stlv. Küchenchef auf ekn2m Kreuzfahrtschiff….. unglaublich welche Masken ich alle nutzen konnte, um meine Überforderung immer weiter zu überspielen… Freunde, Familie, Arbeitskollegen haben alle etwas mitbekommen. Ich habe es nie verheimlicht. Nur habe ich mir von nichts und niemandem was sagen lassen….

Hast du das wahrgenommen?

Sören: Heute nehme ich es rückblickend wahr. Damals habe ich es nur negativ wahr genommen und bin immer weiter in Kreise und Mitmenschen geflüchtet, wo der Konsum „dazu gehörte“ [Gastronomie, Nachtleben, Technoszene, Gabba-Szene, Fußball-Fan-Szene].

Wie hast du den Absprung geschafft und was war deine Motivation clean zu werden?

Sören: Den Absprung bestrebe ich, auch heute im 4. Jahr der Abstinenz, jeden Tag aufs neue. Ich persönlich akzeptiere heute eine Erkrankung, mit der ich mein ganzes Leben arbeiten und justieren muss. Den Absprung davon werde ich mein Leben lang erarbeiten. Meine Motivation ist meine Ehefrau, vor ca. 4 Jahren gewesen.

Welchen Tipp würdest du anderen Eltern geben wollen, wenn sie befürchten, dass sich bei ihrem Kind eine Sucht anbahnen könnte?

Sören: Zuhören. Da sein – nicht unter Druck setzen. Aussagen wahrnehmen, akzeptieren und hinterfragen. Nichts runter reden, nichts klein machen. Wir wollen gesehen und gehört werden, mit all unseren Sorgen, Ängsten und Gefühlen. Die zwischenmenschliche Ebene im Familien-Kontext ist soooooo unglaublich wichtig heute, in dieser lauten & schnellen Welt. Schafft einen Ort der Ruhe, einen Safeplace für die Kinder, für die Familie – Stetig!!! Nicht erst wenn es zu spät ist….

Was für ein Verhältnis hast du heute zu deinen Eltern?

Sören: Zu meinem leiblichen Vater habe ich Kontakt, allerdings mit Abstand und Grenzen im Umgang miteinander. Mutter, Geschwister, Verwandtschaft?? Gebrochen. Ich pflege heute keinen Kontakt mehr zu meiner leiblichen Familie. Die Entscheidung fiel vor ca. 2 Jahren i.d. psychosomatischen Reha. Auch wenn ich oft dafür kritisiert werde : Die Entscheidung war mit einer der wichtigsten Schritte in meiner Genesung, in meiner Entwicklung.

Wie sollte Prävention deiner Meinung nach gestaltet werden? Was ist hilfreich bzw. was glaubst du, hätte dir geholfen?

Sören: Flexibilität und Individualität im Umgang mit jungen Menschen, die ihre Konsumproblematik entwickeln. Viel, viel mehr Anlaufstellen & Programme für junge Menschen, die in den Konsum geraten. Moderne und ansprechende Prävention an Schulen – nicht über Ämter oder Dienststellen, sondern von Leuten, die ihre Reise durch Sucht, Konsum & Therapie selbst begonnen haben. Mehr Realität in der Prävention.