Im Schatten der Sucht zu leben, prägt nicht nur die Eltern, sondern auch die Geschwisterkinder. Wie sich meine beiden jüngeren Kinder damals fühlten, als ihr älteres Geschwisterkind suchtkrank war, kann ich nur aus Gesprächen mit ihnen und aus meinen Erinnerungen erzählen.
Heute sind meine jüngeren Söhne längst Erwachsene mit eigenen Familien und haben ganz andere Gedanken mit Blick auf ihre Kinder.
Oft reden wir heute noch über gewisse Situationen aus der Vergangenheit, aber einen Text wollen sie mir nicht schreiben. Ich darf aber unsere Gedanken und Situationen veröffentlichen.
Es gab viele emotionale Herausforderungen, die meine jüngeren Söhne durchmachten, als ihr älteres Geschwisterkind suchtkrank wurde und bis heute ist. Diese Situation löste eine Vielzahl von komplexen und oft widersprüchlichen Gefühlen aus.
Hier sind einige Einblicke in das, was meine jüngeren Kinder in einer solchen Lage erlebten.
Meine jüngeren Söhne verstanden oft nicht, warum ihr älteres Geschwisterkind anders handelte oder warum ständig Probleme auftraten. Fragen wie „Warum kann unser Bruder nicht einfach aufhören?“ beschäftigten sie.
Das manchmal unkontrollierte Verhalten ihres suchtkranken Bruders führte oft zu Angst und Unsicherheit.
Sie machten sich ständig Sorgen, dass ihrem Bruder etwas Schlimmes passieren könnte.
Da meine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf das suchtkranke Kind gerichtet war (deswegen die Überschrift Schattenkinder), fühlten sich meine kleinen Jungs oft vernachlässigt und einsam. Sie hatten den Eindruck, dass ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle weniger wichtig waren.
Die gesunden Jungs waren manchmal wütend auf ihr älteres Geschwisterkind, weil es aufgrund der Erkrankung oft Unruhe in unsere Familie brachte. Diese Wut richtete sich auch gegen mich und ihren Vater, wenn sie das Gefühl hatten, dass wir unseren süchtigen Sohn bevorzugten oder nicht genug taten, um die Situation zu verbessern.
Die Jungs fühlten sich schuldig und dachten, sie hätten etwas tun können, um die Situation zu verhindern.
Sie schämten sich auch, wenn Freunde oder andere Familienmitglieder von der Sucht erfuhren.
Oft verspürten sie das Bedürfnis, Verantwortung für ihren großen Bruder zu übernehmen.
Sie versuchten, besonders lieb oder hilfreich zu sein, um uns zu entlasten, oder waren auch aggressiv, um wahrscheinlich Aufmerksamkeit zu erhaschen.
Die Suchtprobleme und spätere Doppeldiagnose belasteten unser Familienleben stark, und meine jüngeren Kinder begannen, an sich selbst zu zweifeln. Sie glaubten, dass sie die Situation verändern könnten, wenn sie sich anders verhalten würden.
Die wiederholten Versprechen ihres süchtigen großen Bruders, sich zu ändern, die dann gebrochen wurden, führten dazu, dass meine jüngeren Kinder ein tiefes Misstrauen entwickelten. Dieses Misstrauen übertrug sich manchmal auch zu uns als, Eltern oder andere Verwandte und Bekannte.
Meine Kinder brauchten jemanden, mit dem sie über ihre Gefühle sprechen konnten. Das war oft die Oma oder ein guter Freund bzw. Freundin.
Sport im Verein und Hobbys, die meinen Kindern Spaß bereiteten, waren oft hilfreich.
Wir versuchten, offen und ehrlich mit allen unseren Kindern über die Situation zu sprechen, auf eine altersgerechte Weise. Dies half, Missverständnisse zu vermeiden, und meine jüngeren Kinder fühlten sich dann auch weniger ausgeschlossen.
Im Rückblick würde ich bei vielen Situation mit meinem Schwarmwissen, das ich erst in der Selbsthilfe erlernt habe, anders reagieren, aber damals fühlte ich mich oft überfordert.
Eins ist mir aber dabei noch wichtig zu schreiben: Bis heute halten wir als Familie zusammen. Anja