Ein Geschwisterkind berichtet

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Ich war neun Jahre alt, als mein Bruder geboren wurde. Schon immer bestand zwischen uns eine tiefe Verbindung.

Ich habe ihn von Anbeginn geliebt und war stets bereit, Betreuungsaufgaben für ihn zu übernehmen. Wir hatten eine enge Beziehung – auch später noch, als ich mit 17 Jahren das Elternhaus verließ.

Ich fand eine kleine Wohnung, und mein Bruder kam oft nach der Schule vorbei – manchmal angekündigt, manchmal einfach so. Manchmal brachte er Freunde oder Schulkameraden mit. Die Stimmung war offen, lebendig, unbeschwert. Wir genossen die gemeinsame Zeit.

Eines Tages nahm mich ein Freund zur Seite und sagte mir, dass sich mein Bruder zunehmend von alten Freunden absondere und nun mit Schmerzmitteln, Psychopharmaka und anderen Medikamenten experimentiere.

Von da an änderte sich alles.

Ich bemühte mich, herauszufinden, was er so treibt, welche Kontakte er hat und was genau er konsumiert. Wir diskutierten – zu zweit, zu dritt, mit meiner Lebensgefährtin oder der alten Clique. Wir versuchten ihn zu erreichen, ihn umzustimmen.

Lange hegte ich die Hoffnung – manchmal gar die irrationale Überzeugung –, meinen Bruder doch noch auf einen sicheren Weg zurückführen zu können.  Mir blieb ein unbestimmtes Gefühl der Trauer und die Angst, ihn für immer zu verlieren. Er war inzwischen längst abgebogen, hatte endlich geeignete Mittel gefunden, die ihm Ängste nehmen und seinem Leben vermeintlich Sinn geben konnten.

Immer wieder bot ich ihm meine Hilfe an, vor allem beim Ausstieg. Aber ich lehnte den Kontakt ab, wenn er zugeknallt war. Die Hoffnung auf sein drogenfreies Leben gab ich allerdings nie auf.

Irgendwann war ich an meiner Belastungsgrenze angekommen und musste mich endlich einmal um mich selbst kümmern.

Die örtliche Drogenhilfe machte mir leider keine konkreten Angebote. Stattdessen empfahl man mir die Selbsthilfe im Elternkreis der Stadt. Dort wurde ich herzlich aufgenommen. Die Gespräche mit betroffenen Eltern waren sehr entlastend.

Erst hier erkannte ich allmählich, dass sich meine Position eines Geschwisterkindes grundlegend von derjenigen der Eltern unterscheidet. Ich hatte Elternaufgaben übernommen, die mir nicht zustanden. Und ich wollte lange nicht wahrnehmen, wie groß Schmerz und Trauer wirklich waren, wenn ich daran dachte, meinen Bruder zu verlieren.

Heute ist mein Bruder stabil substituiert und beikonsumfrei. Er hat seine Wohnung behalten. Wir haben ein gutes Verhältnis. Darauf blicke ich mit Stolz zurück, weil ich einen großen Anteil daran habe – auch wenn ich lange brauchte, um das zu erkennen.

Es hat viele Therapiestunden gebraucht, bis es mir gelang, die Verantwortung für das Leben meines Bruders abzugeben. Ich ertappe mich noch heute manchmal bei dem Gedanken, dass ich mit einer Äußerung oder Handlung einen Rückfall auslösen könnte.

Aber die wachsende Loslösung führte zu einer Stärkung meiner eigenen Identität – und zu einer neuen, ehrlicheren Verbindung zwischen uns. Beide profitieren heute von der so gewonnenen inneren Freiheit.

Die ausführliche Geschichte könnt ihr hier nachlesen: Elternkreis-Bochum.de