Der folgende Artikel ist zuerst in der Ausgabe 42/2022 der ZEIT am Wochenende erschienen und wurde von Sara Tomsic verfasst. Der Artikel erscheint auf Webseite Elternsuchtkrankerkinder.de mit der Erlaubins von der ZEIT am Wochenende und allen daran Beteiligten. Dafür möchten wir uns an dieser Stelle ganz herzlich bedanken.
Drogenabhängigkeit – Wie ein Geist
Mit 14 wird Guido drogensüchtig, ganz still und leise. Als Eltern und Bruder es erkennen, ist es fast zu spät – es beginnt ein Horrortrip für die ganze Familie.
Die schwarzen Pupillen so groß, dass sie das strahlende Blau seiner Augen ganz an den Rand gedrängt haben, um den Mund ein irres /Zucken, die Haare fettig, die Hände zitternd, so stand er da und schrie. An dieses Bild erinnern sich die Eltern. Damals schrie er oft. Miteinander sprechen war schon lange nicht mehr möglich, nicht über Alltägliches, schon gar nicht über das Problem. Immer wurde er
aggressiv. Er war kaum noch zu Hause und wenn sie ihn zu Gesicht bekamen, war er entweder auf dem Weg ins Bett oder auf dem Weg in den nächsten Abgrund.
Und wie er da so stand, mit diesen Augen, die nicht seine waren, sahen seine Eltern nur einen Körper, eine Hülle, ausgemergelt, vollgestopft mit Alkohol, mit Gras, mit Speed, mit Ecstasy oder mit Crystal. Vor ihnen stand die Sucht, aber nicht ihr Sohn. Der war verloren gegangen.
Eine Familie will erzählen, wie die Drogensucht ihres Sohnes das Leben aller Familienmitglieder veränderte, bis vor zwei Jahren, als es plötzlich vorbei war. Die Familie, das sind Mutter Daniela, Vater Wolf, ihr älterer Sohn Trutz und der jüngere Guido. Ungefähr 2013 wurde Guido drogenabhängig, heimlich und leise. Darauf folgten sieben laute und zerstörerische Jahre.
Heute wollen alle Familienmitglieder darüber sprechen, was diese Zeit mit ihnen gemacht hat. Sie wollen über Momente sprechen, die ihnen im Nachhinein wie Warnsignale erscheinen, die sie übersehen haben. Über Nächte, in denen sie nicht wussten, ob Guido tot ist oder lebt, über die Fragen nach Schuld und die lähmende Einsicht, dass Sucht ein Gegner außer Konkurrenz ist. Die ganze Familie hat sich viele Jahre gefragt: Wie konnte das alles nur passieren?
2021 haben bei einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 9,3 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren bestätigt, mindestens einmal in ihrem Leben Cannabis konsumiert zu haben. Bei den 18- bis 25-Jährigen waren es 50 Prozent. Das ist der höchste erhobene Wert seit 1973.
An einem Mittwoch Anfang September schirmt Guido seine blauen Augen gegen die Sonne ab. Er will den Hof zeigen, sein neues Zuhause, die Kühe, den Stall, den Garten, das Restaurant. Aber er will vor allem reden. Darüber, was war und dass es Vergangenheit ist und bleiben soll. Über den Rausch, den Weg rein und den raus. Er will offen und ehrlich sprechen, und darum seinen Nachnamen nicht in diesem Text lesen. Denn es wird auch um Straftaten gehen, für die er nie belangt wurde und er möchte in Zukunft mehr sein als nur der Ex-Junkie. Auch für Arbeitgeber, die ihn googeln könnten.
Die Eltern sitzen an einem heißen Tag im August auf ihrer Terrasse bei Kaffee und Butterbrezel. Die Mutter, grau glänzendes Haar, wallende Bluse und helles Lachen, der Vater im Karohemd, mit dünnrandiger Brille und weicher Stimme. Beide beugen sich vor beim Erzählen, sie sehen sich an, wenn sie bei Details unsicher sind, zögern nicht mit ihren Antworten und reden nicht leise. Die Sorge vor den Nachbarn haben sie vor langer Zeit abgelegt.
Der ältere Sohn Trutz, heute 25 Jahre alt, erzählt seine Perspektive wenige Tage später in seiner Wohnung in einer Kleinstadt nahe Stuttgart. Auf einer braunen Ledercouch sitzend, die Augen freundlich und blau wie die seiner Mutter, schiebt er immer wieder seine Basecap aus der Stirn. Er lässt sich Zeit beim Sprechen, sagt manchmal Dinge, die er kurz danach relativiert, und zuckt am Ende ein bisschen hilflos mit den Schultern.
Das Gespräch beginnt mit der Kindheit der beiden Jungs, dort, wo die Familie noch manchmal nach Erklärungen für Guidos Sucht sucht. Im Umland von Stuttgart, in einem Haus mit viel Licht, das durch Glasfronten fällt, und Platz, der sich auf zwei Stockwerke erstreckt, sind Guido und Trutz in den Neunziger- und Nullerjahren aufgewachsen. Vater Wolfgang ist Anwalt, Mutter Daniela kümmert sich um das Haus und die Söhne. Die Familie ist verankert in der Gemeinde, die Brüder, zweieinhalb Jahre auseinander, sind fast wie beste Freunde.
Die Mutter: Die Jungs waren sehr verschieden, trotzdem aber sehr liebevoll miteinander. Sie spielten viel zusammen und bestimmten immer einen Chef. An einem Tag war Trutz Chef 1 und Guido Chef 2, am nächsten Tag andersherum.
Der Bruder: Wir sind sehr behütet aufgewachsen. Unsere Eltern waren liebevoll und wir hatten viel Spaß zusammen. Ich war eher schüchtern, brauchte auch mal Zeit nur für mich. Mein Bruder war da anders, er liebte es, unter Leuten zu sein.
Der Vater: Guido war nicht kaputtzukriegen, der Junge hatte unglaublich viel Energie. Wir waren mal in Italien wandern, da war Guido vier Jahre alt und brütete eine Angina aus – das wussten wir aber damals noch nicht. Acht Stunden ging die Wanderung. Als wir in unserer Ferienwohnung ankamen, waren wir alle völlig erledigt und Guido fragte: Und was machen wir jetzt?
Guido: Ich hatte eine schöne Kindheit, keine Frage. Ich war ein Macher.
Den kleinen Guido beschreiben die vier als unruhig, rastlos, als aktiv, zugewandt und offen. Er ist der Sohn, der schon als Kleinkind keine Scheu hat, beim Metzger laut eine Scheibe Wurst für sich und seinen Bruder zu fordern, oder der sich im Kindergartenalter allein auf den Weg macht zu einem Aussiedlerhof, wenige Kilometer von seinem Zuhause entfernt, weil er jetzt sofort eine Ziege streicheln will.
Im frühen Teenageralter nehmen die Brüder zusammen Gitarrenunterricht, Guido spielt gleichzeitig im Orchester und nimmt
Akkordeonstunden. Er spielt Fußball und Handball. Irgendwann werden seine Noten schlechter, so weit, so normal für einen Teenager. Aber dann fragt sein Lehrer aus der Musikschule bei den Eltern nach, ob zu Hause alles in Ordnung sei.
Guido hätte viele Stunden verpasst, sei nicht aufgekreuzt oder wenn, dann lustlos und unkonzentriert. Damals ist er vierzehn Jahre alt.
Der Vater: Das hat uns verwundert, Guido liebte die Musik und seine Instrumente. Aber wir dachten einfach: Er hat halt keine Lust mehr.
Die Mutter: Zu der Zeit fiel uns auf, dass er uns manchmal nicht die Wahrheit sagte. Er sagte oft nach der Schule, er sei auf der BMX· Bahn hier im Ort, um mit seinen Freunden zu fahren. Wenn ich da aber zufällig mit unseren Hunden vorbeispazierte, war er nie da. Das kam ein paar Mal vor. Wenn ich ihn danach fragte, hatte er immer gute Ausreden.
Der Bruder: Da hatten wir uns schon ein wenig auseinandergelebt. Ist ja bei Geschwistern auch normal. Jeder hatte so sein Ding und seine Blase. Ich hatte damals nicht so den Überblick, was er mit wem machte.
Die Mutter: Einige Monate vorher habe ich Tabakutensilien bei Guido im Zimmer gefunden. Diese Papierehen und Filter. Beim Regal abstauben, ich habe nicht geschnüffelt. Ich habe ihn nie darauf angesprochen. Aber ich habe mir vorgenommen: Wenn ich mal Rauch an ihm rieche, dann spreche ich ihn an! Ich fand, dass jeder Teenager ein Recht auf Geheimnisse vor seinen Eltern hat.
Guido: Zu dieser Zeit habe ich angefangen, Cannabis und Ecstasy zu konsumieren. Ich hatte das mit Kumpels mal auf einer Party ausprobiert. Am Anfang haben wir nichts gespürt, aber beim zweiten oder dritten Mal hat es gekickt. Es fühlte sich gut an, ich war neugierig auf mehr.
Laut Bundesgesundheitsministerium und repräsentativen Studien aus dem Jahr 2018 weisen 600.000 Menschen in Deutschland einen problematischen Konsum von illegalen Drogen auf. Die Dunkelziffer liegt laut Experten weitaus höher.
Die Gespräche über die Fehlstunden und die schlechten Noten verlaufen, wie Gespräche mit einem Teenager eben verlaufen: Ja, hab’s kapiert, ist doch nicht so wild, ja, okay, kommt nicht wieder vor. Die Eltern denken: Alles okay.
Guido: Mit ungefähr 15 Jahren habe ich angefangen, auch Speed zu nehmen. Und mich für Techno zu interessieren. Ich ging in der Szene feiern und knüpfte dort Kontakte. Meine Kumpels und ich haben unser Taschengeld zusammengelegt, um Stoff zu kaufen. Anfangs haben wir nur nach der Schule konsumiert, dann irgendwann in der großen Pause. Dann vor der Schule. Zu Hause habe ich mir was auf dem Klo reingezogen. Nicht im Zimmer – sollte ja keiner merken.
Seine Familie merkt nichts. Dann kommt der Vatertag 2016. Guido ist 17 Jahre alt.
Die Mutter: Wir saßen zusammen beim Essen und dann hat er losgelegt. Er wirkte wie verkatert, verzweifelt. Und hat geweint.
Der Vater: Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was er gesagt hat. Aber die Essenz war, dass er Drogen konsumiere und Angst habe. Bei mir blieb das Gefühl: Scheiße, was ist das? Aber auch sofort die Rationalisierung: Na gut, er probiert das halt gerade aus.
Die Mutter: Er sagte, er nehme Ecstasy und Cannabis. Wir haben das nicht so sehr ernst genommen. Weil wir es auch nicht ernst nehmen wollten. Das tut einem als Eltern ja weh. Ich dachte mir: Wo will er das hernehmen? Wie will er das finanzieren?
Der Bruder: Kurz vorher hatte er sich von seiner Freundin getrennt. Seine Hilflosigkeit und Traurigkeit habe ich darauf bezogen. Ich dachte, er übertreibt ein bisschen, und: Wenn er wirklich so viel Drogen konsumieren würde, hätte ich das doch mitbekommen.
Guido: Es musste irgendwie raus. Ich hatte Angst. Vielleicht wollte ich, dass sie … Ich weiß nicht. Es war mir alles einfach zu viel.
Das Gespräch hat erst mal keine direkten Konsequenzen. In den Monaten danach werden Guidos Noten noch schlechter. Dann ruft der Rektor der Schule an und sagt den Eltern, Guido würde in der Schule angeblich dealen. Seine Stimme forsch und vorwurfsvoll, so nehmen es die Eltern damals wahr.
Sie fühlen sich ungerecht behandelt vom System. Guido hatte viele Fehlstunden als Minderjähriger, die Schule habe die Eltern darüber aber nicht informiert. Sie hätten das erst aus dem Zeugnis ihres Sohnes erfahren. So viel zum Thema Sorgfaltspflicht, sagen sie.
Wenn die Eltern davon erzählen, hört man Wut und ahnt Scham. Von der Schule fühlen sie sich angeprangert und abgestempelt. Aber nun ist auch klar: Hier gibt es wirklich ein Problem. Und auf der Suche nach dem Warum wollten sie nicht die Antwort sein.
Der Vater: Ich bin dann zur Selbsthilfegruppe für Eltern mit drogenabhängigen Kindern. Da habe ich gute Tipps bekommen. Wir waren dann oft bei der Drogenberatung. Zu dritt oder nur Guido und ich.
Die Mutter: Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Und haben einfach gehofft, dass es besser wird.
Mit viel Druck gelingt es den Eltern, ihren Sohn in eine Entgiftungsklinik zu bekommen. Er verbringt dort zwei Wochen. Die Eltern denken: Super, wir haben das Problem gelöst. Heute lachen sie und nennen das naiv. Kaum aus der Klinik raus, beginnt Guido erneut zu konsumieren.
Die Mutter: Wenn er konsumiert hatte, hatte er immer einen Ikonenblick drauf, wie so Madonnenstatuen. So verschleiert, leidend, irgendwie entrückt. Ich hab ihn einmal zufällig in der Nähe unseres Hauses gesehen, da hat er mit einem Freund lauthals Reden geschwungen und so wilde Schritte gemacht und mit den Armen gefuchtelt. Ich dachte: Was ist das denn?
Guido: Ich lebte in meiner eigenen Welt. Ich mochte das, was die Drogen mit mir machten. Ich war fit, konzentriert, fühlte mich gut.
Der Bruder: Ich habe mir damals schwere Vorwürfe gemacht. Ein paar Mal war Guido früher dabei gewesen, wenn ich mit meinen Freunden einen Joint geraucht hatte. Ich habe mich gefragt: Ist es meine Schuld, dass er jetzt süchtig ist?
Die Mutter: Auf meinem iPad hatte er den Facebook-Messenger installiert und sich nicht ausgeloggt. Da konnten wir teilweise die Nachrichten zwischen ihm und seinen Freunden mitlesen. Wenn dann so ein Junge aus der Gegend schrieb, er hätte gar nichts mehr da und könne höchstens noch Schlafmittel von seiner Mutter stehlen, das war absurd. Wir waren hilflos.
Wenn man die Eltern fragt, wie sie in solchen Situationen reagiert haben, dann schweifen sie oft ab. Weil sie es nicht mehr genau wissen, weil all diese Jahre rückblickend zu einem Klumpen aus Sorge und Angst verschmelzen, vielleicht auch, weil sich die Hilflosigkeit von damals auch heute noch zeigt. Wenn die Familie damals versucht, mit Guido zu sprechen, wird der nur aggressiv und schreit rum.
Einige Zeit später verlässt Guido die Schule nach der elften Klasse. Er bewirbt sich um ein FSJ im Krankenhaus, bekommt den Platz und zieht von zu Hause aus.
Guido: Damals habe ich viel durcheinander konsumiert. Vor allem Cannabis und Speed, auch Ecstasy und Kokain, auch Ketamin und GBL – und auch Crystal Meth. Ich war tagelang am Stück feiern in meinen Lieblingsclubs, jeder Türsteher kannte mich, ich musste keinen Eintritt zahlen, die Szene war mein Zuhause.
Der Vater: Diese Zeit war eine Katastrophe für uns. Wir hatten keine Kontrolle. Er war dort und machte, was er wollte.
Die Mutter: Kurz nach Weihnachten waren wir mal in seinem Wohnheim, da hat er nicht aufgemacht. Wir haben durchs Fenster geschaut und da lag er quer auf dem Bett. Überall lag so Zeug rum, Tütchen voller Drogen. Wir sind nach Hause gefahren und haben versucht zu schlafen. Wir konnten ja nichts machen. Er war nicht krank, er war nur high und schlief seinen Rausch aus. Wir konnten ja nicht die Polizei oder den Krankenwagen rufen.
Der Bruder: In allen Gesprächen zu Hause ging es immer nur noch um Guido. Das war nun seit Jahren so. Ich konnte es natürlich verstehen, ich machte mir auch Sorgen. Aber gleichzeitig war ich genervt und wütend auf meinen Bruder. Aber Sucht ist eine Krankheit, er konnte nichts dafür, das wusste ich auch. Es war … schwer.
Was Guido macht, nennt sich Mischkonsum. Der ist besonders gefährlich, weil unklar ist, welche Art von Wechselwirkungen durch die verschiedenen Substanzen entstehen können. Der Deutschen Suchthilfestatistik zufolge konsumiert ein Mensch, der aufgrund von Cannabis in Deutschland stationär betreut wird, im Schnitt 3,7 verschiedene Substanzen in schädlicher oder abhängiger Weise.
Das Klinikpersonal bemerkt schnell, dass Guido süchtig ist. Nach wenigen Monaten suchen sie das Gespräch, beenden sein FSJ und legen ihm nahe, sich Hilfe zu suchen.
Guido zieht zurück nach Hause und tut nichts. Seine Eltern sagen, er war damals schon nicht mehr zu einem geregelten Tagesablauf fähig. Mal ist er mehrere Tage verschwunden, die Eltern vermuten, er ist feiern, Donnerstag zieht er los, ist bis Montag oder Dienstag unterwegs, kommt breit zurück. Dann schläft er vier Tage fast nur durch. Und dann wieder von vorn.
Die Mutter: Es ist verrückt, da steht der eigene Sohn, aber man kann ihn nicht mehr spüren. Die Sucht hat aus ihm einen Fremden gemacht.
Der Vater: Wenn er im Bett lag und schlief, hat sein ganzer Körper geglüht, als hätte er Fieber. Ich habe dann immer wieder nach ihm geschaut. Atmet er noch?
Die Mutter: Er wurde immer dünner, sah völlig verbraucht aus. Das machte uns Angst, ich habe mich verantwortlich gefühlt und war unendlich traurig. Aber auch wütend.
Der Bruder: Er war eigentlich nicht mehr aktiver Teil unserer Familie. Er war wie ein Geist. Man konnte nicht mit ihm sprechen, nichts mit ihm anfangen. Zu dieser Zeit habe ich mich gefühlt, als hätte ich keinen Bruder.
Guido: Damals war ich auf allem Möglichem. Kokain, Ketamin, GBL, LSD und Crystal. Aber am meisten brauchte ich Gras. Alle 40 Minuten habe ich einen Joint geraucht. Ohne ging nicht. Von meinen Eltern oder meinem Bruder wollte ich nichts wissen. Es war mir egal. Ich wollte entweder meine Ruhe oder den nächsten Trip. Um die Sucht zu finanzieren, habe ich mit Amphetamin gedealt. Entweder in meinen Stammclubs oder teilweise kamen Kunden auch zu mir nach Hause. Meine Eltern haben sich sicher ihren Teil gedacht.
Die Eltern überreden ihn zu einer zweiten Entgiftung und direkt anschließender Langzeittherapie. Dieses Mal sagen sie: Wenn du sie abbrichst, darfst du nicht mehr nach Hause kommen. Guido geht in eine Einrichtung in Bayern. Zu diesem Zeitpunkt ist er 19 Jahre alt.
Die Mutter: Wir waren durch.
Der Vater: Wir wollten so viel Druck machen, dass er es durchzieht. Ich dachte: Das ist die letzte Chance.
Guido: In dieser Langzeittheraphieeinrichtung bin ich so leicht an Drogen gekommen wie sonst nirgends. Kaum jemand dort war wirklich nüchtern. Die hatten ihre Tricks und haben über externe Freunde hartes Zeug reingeschmuggelt. Wir saßen teilweise auf LSD in Gruppensitzungen und die Therapeuten haben es nicht gemerkt.
An einem Samstag einige Wochen später sieht die Mutter durch Zufall im Messenger, den sie mitlesen kann, dass der Sohn sich von einem Kumpel, seinem Dealer, abholen lassen will. Sie versteht: Er will die Therapie abbrechen. Die Eltern rufen beim Freund und ihrem Sohn an und flehen ihn an, dort zu bleiben. Die Männer legen auf und Guido schreibt seinen Eltern, sie sollen ihn in Ruhe lassen. Danach blockiert er sie. Es folgen zwei Wochen, in denen die Familie nichts von ihm hört.
Der Bruder: Meine Eltern waren am Ende. Ich auch. Ich konnte nicht schlafen, mich auf nichts konzentrieren. Ich machte mir große Sorgen um ihn. Immer, wenn ich bei meinen Eltern war, weinte meine Mutter. Er war schrecklich.
Der Vater: Wir wussten nicht, ob unser Sohn noch am Leben ist. Es war ein Sturz ins Bodenlose für uns. Wir hatten keine Kontrolle mehr, auch nicht über unser Leben. Man leidet ja mit, diese Ängste sind unbeschreiblich. Wir waren dem ausgeliefert.
Laut Erhebungen des Bundeskriminalamts sind 20211.826 Menschen an den Folgen ihres Drogenkonsums gestorben. Das ist die höchste Zahl seit über 20 Jahren.
Die Mutter: Über Ecken hatten wir gehört, dass er sich vielleicht in einem Park in Stuttgart rumtreiben könnte. Wir sind dann ein paar Mal mit unseren Hunden dort hingefahren und im Kreis gelaufen. Wir haben ihn nicht gefunden.
Guido: Ich habe in der Zeit bei Freunden oder auf der Straße gepennt und war viel feiern. Ich habe mir alles reingezogen, was ich in die Finger bekommen habe. Ich war teilweise, glaube ich, über sieben Tage wach. Keine Ahnung, wie ich das überlebt habe. Dann ging mir das Geld aus. Und ich fühlte mich leer. Irgendwie hatte ich das Gefühl: Ich muss zurück nach Hause.
Guido steht eines Nachts wieder zu Hause vor der Tür. Die Familie nimmt ihn wieder auf, sie sind einfach froh, dass er noch lebt.
Obwohl die meisten Experten Eltern zu einem harten Schnitt raten, nimmt die Familie ihn wieder auf. In der Suchtarbeit gibt es den Begriff der Co-Abhängigkeit, vor dem Angehörige immer gewarnt werden. Wenn das Leben sich nur noch um den Süchtigen dreht, die Familie eigene Bedürfnisse ignoriert, über eigene Grenzen geht, nimmt die Sucht die Angehörigen fast so stark in die Mangel wie den Süchtigen selbst. Hier wird dann geraten, Abstand zu nehmen, loszulassen, zu verstehen: Wir können nichts tun.
Dahinter steht die Hoffnung: Wer einmal ganz unten angekommen ist, schafft es vielleicht allein auf die Beine. Der Süchtige muss verstehen, dass er etwas zu verlieren hat.
Die Mutter: Ich halte nichts von dem Begriff Co-Abhängigkeit. Was soll das sein? Als Eltern leidet man immer mit, das ist doch klar.
Der Vater: Er ist unser Kind. Und Sucht ist eine Krankheit. Unser Kind stand hilflos und krank vor unserer Haustüre. Natürlich haben wir ihn wieder aufgenommen.
In den kommenden Wochen kommen – wie schon früher – Briefe von der Staatsanwaltschaft an, Anzeigen fürs Schwarzfahren, für Drogenbesitz und andere Vergehen. Auflagen wurden nicht eingehalten, Sozialstunden nicht geleistet, Fristen liefen ab. Über all das wird nur noch gestritten.
Als die Eltern ihren Söhnen eine systemische Familientherapie vorschlagen, stimmen beide zu. Die Familie sieht ein: Wir sind wie ein Mobile: Bewegt sich einer, bewegen sich alle.
Der Vater: Auch wenn Guido teilweise direkt aus dem Club kam und noch drauf war, haben wir trotzdem gesehen: Er ist hier, er will es auch.
Der Bruder: Ich war skeptisch. Ich hatte das Gefühl, mein Bruder tanzt uns auf der Nase herum und erzählt dem Therapeuten einfach das, was der hören will. Mein Gefühl war damals, heute schäme ich mich fast dafür, dass Guido ins Gefängnis sollte. Ich dachte: Es braucht endlich einen harten Schnitt, eine Notbremse. Irgendwas muss sich ändern, wir drehen uns seit Jahren im Kreis. Wenn mein Vater als Anwalt ständig alle Anzeigen für meinen Bruder klärt, denkt der ja: läuft doch.
Die Mutter: Nach den Sitzungen waren wir jedes Mal essen. Das waren die einzigen Momente seit Jahren, in denen wir einfach eine normale Familie waren.
Guido entscheidet sich nach der Therapie dafür, zu leben. Er merkt: Ich brauche Hilfe.
Guido: Es gab keinen großen Aha-Moment für mich, der mich überzeugte, clean zu werden. Es war eine Mischung aus Angst und Schuld, glaube ich. Angst um mich und Schuld gegenüber meinen Eltern. Ich habe da verstanden, was ich ihnen all die Jahre zugemutet habe.
Der Vater: In der Zeit habe ich ihm immer wieder einen Flyer vom Fleckenbühler Hof in Hessen gezeigt. Das ist ein Ort, an dem Ex-Süchtige einen Weg zurück ins Leben finden können. Ich fand, das sah toll aus. Viele Male warf er den Flyer einfach weg. Aber irgendwann fragte er mich: Können wir da mal hinfahren?
Wer Guido heute gegenübersitzt, schaut in helle blaue Augen wie die seiner Mutter und die seines Bruders. Er ist nüchtern. Vor wenigen Tagen hat er seinen Geburtstag gefeiert, seinen zweiten Clean-Geburtstag. Mutter, Vater und sein Bruder waren hier. Hier, das ist das Hofprojekt in Hessen, das sein Vater ihm damals vorgeschlagen hat. Zwei Jahre ist Guido nun nüchtern, er konsumiert nichts mehr, keinen Alkohol, kein Nikotin, keine Drogen.
Er erzählt von seiner Ausbildung zum Koch im Hofrestaurant. Von den Grundregeln auf dem Hof, von den Menschen, die, wie er, harte Zeiten hinter sich haben. Er wirkt aufgeregt, während er die Ställe mit Kühen, das Restaurant, den großen Gemüsegarten und die Wohneinheiten zeigt. Er sagt, er habe Glück, dass er noch lebe. Guido ist heute 23 Jahre alt.
Wenn er an seinem weißen T-Shirt zupft und lächelt, bevor er sagt, dass er dankbar für diese zweite Chance ist, sieht man nur seinen Zähnen an, dass etwas anders ist. Durch den jahrelangen Konsum sind sie schwer geschädigt, aufgeraut und gelblich. Seine Haare sind etwas länger, zum Friseur kann er nicht, weil er immer wieder Haarproben abgeben muss. Zum Nachweis, dass er nüchtern ist – für seinen Führerschein, den er zurückwill. So wie sein Leben. Aber alles Schritt für Schritt.
Er mag sein Leben auf dem Hof, er will bleiben, für das „Draußen“ fühlt er sich noch nicht bereit. Immer wieder brechen Menschen ihre Zeit auf dem Hof ab und gehen zurück in ihr altes Leben. Manche werden Wochen später von der Polizei mit Drogen erwischt und kommen ins Gefängnis, andere werden tot in ihrer Wohnung gefunden, so wie kürzlich eine junge Frau, die Guido kannte. Er ist vorsichtig, aber fordert sich auch heraus. Er liebt Techno immer noch, legt selbst auf, geht ab und an in die Clubs von damals. Dann ist er stolz, wenn den alten Bekannten fast die Augen aus dem Kopf fallen und sie sagen: Was? Du? Nüchtern? Crazy! Dann steht er auf der Tanzfläche, sieht sich um, sieht wankende, tanzende, breite Leute und denkt: Oh Gott, so sah ich auch aus. Bisher verließ er jeden dieser Abende mit Stolz im Kopf und sonst nichts.
Auf dem Hof ist die Runde vorbei und Guido sitzt wieder auf einem Stuhl vor seinem Restaurant. Er sagt viel „wir“ und „unsere Produkte“, er sagt „unsere Regeln“ und „meine Aufgaben für die Gemeinschaft“. Er wirkt wie jemand, der einen Platz gefunden hat, an dem er sein will und an dem er sich richtig fühlt.
Der Vater: Ich freue mich sehr, meinen Sohn wiederzuhaben. Wenn ich ihn heute ansehe, dann sehe ich den wertvollen Menschen, der er ist. Lange Zeit war das nicht möglich. Trotzdem habe ich Sorgen. Ich werde nervös, wenn ich die Polizei durch unser Wohngebiet fahren sehe. Ich frage mich dann: Kommen sie wegen Guido – ist er rückfällig geworden?
Die Mutter: Oder wenn ungewöhnlich spät am Abend das Telefon klingelt, auch da bleibt mir gleich das Herz stehen. Da merke ich einfach: Ich bin noch nicht drüber hinweg.
Der Bruder: Er macht das gut. Ich bin so dankbar, dass es vorbei ist und dass es ihm besser geht. Ich wünsche ihm sehr, dass er seine Ausbildung fertig macht. Das wäre wichtig, glaube ich. Damit er seinen Platz in der Welt findet.
Guido: Ich bin so dankbar, dass meine Familie mich immer noch unterstützt.
Darüber gesprochen, was diese Zeit mit ihnen gemacht hat, mit ihnen als Mobile, aber auch mit jedem einzelnen, das hat die Familie bis heute noch nicht. Das brauche noch etwas Zeit und Abstand und auch Kraft, finden alle.
Eine Frage am Ende bleibt – bei den Eltern, beim Bruder, bei vielen, die seine Geschichte kennen: Warum wurde Guido süchtig?
Die Mutter: Vielleicht hatte er irgendein Trauma, ich weiß nicht welches. Aber Kinder sind sehr empfindsam, schon als Babys. Vielleicht hat ihn irgendwas versehrt.
Der Vater: Er wollte immer viel vom Leben, vielleicht war seine Rastlosigkeit der Grund.
Der Bruder: Ich weiß es nicht.
Guido: Ein Warum gibt es nicht. Ich habe kein Trauma von früher, mir ist nichts passiert, ich hatte Eltern, die für mich da waren, einen tollen Bruder, ein Zuhause, alle Möglichkeiten. Ich hatte Freunde, Hobbys, ich hatte ein gutes Leben. Ich bin einfach so reingeraten.