Loslassen

Start » Reflexion » Loslassen

Loslassen – aber nicht fallenlassen!

„Fallenlassen! Lassen Sie ihn fallen!“

Die Worte an eine liebende Mutter gerichtet und gemeint ist der Sohn! Wie soll ich meinen Sohn fallen lassen? Soll das ein Witz sein? Wenn ich meinen Sohn fallen lasse, ist das für mich gleichbedeutend wie ihn aufgeben.

Doch wenn ich ihn aufgebe, dann gebe ich einen Teil von mir auf. Er ist mein Fleisch und Blut, meine größte Liebe.

Plötzlich kommt mir eine Erinnerung. Er lernte gehen, ich halte ihn an seinen kleinen Händchen… und er klammert sich an meine Finger. Der Moment, als er den Mut hatte, seine ersten eigenen Schritte zu gehen, das war eins von den ersten Malen, wo ich ihn loslassen musste.

Damit er laufen lernt, ließ auch ich los. Er fiel auf den Po. Das erste mal stellte ich ihn auf, doch schon beim dritten, vierten Fall lief er einige Schritte weiter und er rappelte sich selber auf seine Beinchen. Manchmal fiel er und brauchte meinen Trost, weil er sich weh getan hatte. Dies teilte er mir lauthals mit, er suchte meine Hilfe. Ich war da!

Heute weiß ich, nie im Leben werde ich eines meiner Kinder fallenlassen, ich werde sie in aller Liebe loslassen. Denn auch jetzt muss er lernen: lernen mit dem Leben klar zu kommen, Verantwortung zu übernehmen für sein Handeln, Konsequenzen tragen. Ich werde aber aufmerksam hinter ihm stehen, und wenn er nach Hilfe ruft, um auf seinen Beinen zu stehen, damit er in die gesunde Richtung geht, werde ich da sein und wenn es sein muss, wieder seine Hand halten. Er ist und bleibt mein geliebter Sohn. Sandy


Loslassbrief von Anja an ihren Sohn

Mein Sohn wurde wieder vermisst und ist später in der französischen Schweiz aufgegriffen und dort in die Psychiatrie gebracht worden. Bis dahin ist er quer durch die Länder gereist, kam aber immer wieder zurück zu uns. Oft psychotisch und abgemagert.

Ich habe das irgendwann nicht mehr ertragen……… diese Ungewissheit, ob es ihm gut geht und er überhaupt noch lebt. Irgendwann bemerkte ich, dass er trotz seiner Doppeldiagnose ein Lebenskünstler ist, denn er fand immer den Weg zu uns nach Hause und das unter abenteuerlichen Bedingungen. Ich habe ihm dann diesen Loslassbrief geschrieben:

„Vielleicht gibt es eine Zukunft, nämlich deine eigene, die Du möchtest und nicht die, die ich für dich gewünscht habe. Loslassen ist vielleicht besser als dich einzuengen in Kliniken, Wohngruppen und Therapien, auf die Du Dich nicht einlassen kannst. Drum lass ich dich gehen“.


Wenn wir mehr auf uns schauen, fällt das Loslassen leichter…

Ein Zuviel an Fürsorge, Kontrolle, Übernahme von Erledigungen, Einstielen von Terminen schwächt die Autonomie unserer Kinder. Diese benötigen sie aber, um ihre Selbstwirksamkeit zu spüren. Sicher gibt es Situationen, wenn unsere Kinder nicht ans Hilfesystem angebunden sind, dass sie unsere Unterstützung benötigen. Wir sollten ihnen jedoch weitestgehend möglichst die Verantwortung für ihr Leben selbst überlassen. Und das gelingt besser, wenn wir uns mehr um uns und unsere Bedürfnisse kümmern.

Eine gute Selbstfürsorge hat auch noch einen weiteren positiven Aspekt. Unsere Kinder spüren genau, dass wir unter der Situation leiden und zu zerbrechen drohen. Sie haben, ebenso wie wir, Schuldgefühle. Es geht auch ihnen besser, wenn sie sehen, dass wir uns auch um uns selbst kümmern. Es nimmt ihnen etwas von ihrem schlechten Gewissen uns gegenüber. Denn, es ist tatsächlich so, dass auch unsere Kinder unter einem schlechten Gewissen leiden!

Es ist gut, wenn wir „loslassen“ können. Wir werden niemals die Probleme eines anderen Menschen lösen können. Das kann dieser nur selbst. Manchmal entsteht eine neue Nähe zueinander, wenn sich beide Seiten etwas Abstand gegönnt haben und später wieder zueinander finden. Das alles ist schwer umzusetzen und erfordert Kraft, Selbstvertrauen, Übung und Zeit. Glaub an dich – das hilft auch deinem Kind. Barbara