Schuld und Scham

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„Die Frage nach der Schuld bringt uns Eltern nicht weiter. Sie heilt nichts. Im Rückblick kann ich jedoch klar erkennen, was hätte besser laufen können.“

Ich habe verstanden, dass ich Sorgen und Nöte meines Kindes nicht erkannt habe, weil sie mir nicht so bedeutend erschienen. Ich habe gelernt, offene Fragen zu stellen, um mein Kinder einzuladen, sich mir anzuvertrauen. Ich habe gelernt, zuzuhören und mich mit ungefragten Ratschlägen zurückzuhalten. Ich habe gelernt, dass Sucht meist eine Bewältigungsstrategie ist und nicht von heute auf morgen wieder verschwindet.

Ich habe gelernt, dass ich den Weg meines erwachsenen Kindes nicht bestimmen kann. Und das aller wichtigste: Ich habe gelernt, an einer guten Beziehung zu meinem Kind zu arbeiten, egal in welchem Zustand sich mein Kind gerade befindet und mein Kind so zu akzeptieren, wie es gerade ist.   Barbara 


„Sind immer nur die Anderen schuld!? Ich habe immer in dem System die Schuld gesucht, aber selten hinterfragt, ob ich nicht auch Teil des Systems bin.“

Ganz bestimmt ist nicht nur der Dealer, das System oder der Umgang Schuld, denn es gibt viele Faktoren, die mitgewirkt haben, meinen Sohn in die Sucht zu treiben. Ich habe oft nachgedacht, ob ich bei entsprechenden Situationen nicht angemessen im Umgang mit meinem Sohn, während seiner Doppeldiagnose, reagiert habe.

Anfangs habe ich mich mit seiner Sucht beschäftigt, später mit meinem eigenen Leid. Meine beiden jüngeren Söhne kamen oft dabei zu kurz und waren auch im Leid. Ich frage mich, ob ich vieles übersehen, nicht hingehört, nicht verstanden habe etc. Heute weiß ich, dass viele Faktoren zu einer Suchterkrankung gehören, und auch wir als Eltern werden unbewusst unseren Teil dazu beigetragen haben.

Ich habe deswegen keine Schuldgefühle, sondern einfach nur die Erkenntnis gewonnen, in heutigen Situationen mit meiner Erfahrung anders zu reagieren, wenn die Situation es wieder erfordert. Ich wurde nicht als Mutter geboren und bekam keinen Erziehungsratgeber in die Hand gedrückt, der mir wahrscheinlich nur wenig geholfen hätte. Die Erziehung der eigenen Kinder ist ein ewiger Lernprozess und auch wenn die Liebe immer da war, wuchs ich erst mit den Erfahrungen in die Rolle der Mutter. Anja


„Ich bin eine Überlebende! Ich bin nicht Schuld an meiner Krankheit,“ Susanne zum Thema Schuld und Akzeptanz nach 35 Jahren Heroinabhängigkeit

Bis ich vor 6 Jahren meine Diagnose – ADHS, bipolar, Borderline – bekam, hielt ich mich für eine durchgeknallte Junkie-Alte, die ihr Leben nicht geregelt bekommt. Ich hatte 35 Jahre Heroin Konsum hinter mir und hatte verinnerlicht, dass es schlimm ist, Drogen zu nehmen. Durch Kriminalisierung (Kontakt Polizei etc.) bin ich immer mehr ins gesellschaftliche Abseits geraten. Mit meinen Eltern bin ich relativ früh offen mit meinem Konsum umgegangen. Sie zeigten weitestgehend Verständnis bedingt durch ihren medizinischen Hintergrund.

Dennoch machten sie sich natürlich sehr große Sorgen, was bei mir dazu geführt hat, mich noch mehr zu schämen und Drogen zu konsumieren. Irgendwann führte das zum Kontaktabbruch, weil ich meinen Eltern das nicht zumuten wollte, mich so erleben zu müssen. Mutter hat immer sehr schnell gemerkt, wenn ich konsumiert hatte. Mein Gedanke war dann: besser ich rufe nicht an, als wenn sie wieder raushört, dass ich konsumiert habe. Ich hatte 7 oder 8 Jahre keinen Kontakt zu den Eltern bis meine Eltern sich ihrerseits wieder um Kontakt bemüht haben.

Meine Eltern hatten einen akzeptierenden Ansatz. Sie gaben mir kein Bargeld, kauften aber für mich ein, und wenn die Katze zum Tierarzt musste, bezahlten sie das auch. Sie haben mich in ihrem Rahmen unterstützt ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, mir Geld zu geben, das ich eventuell für Substanzen ausgeben könnte. Durch die Wirkung des Konsums konnte ich Schuldgefühle absondern und habe sie meist nicht gespürt. Nachdem ich wegen Handels mit nicht geringen Mengen Heroin und 6monatiger Telefonüberwachung aufgeflogen bin, kam ich erstmals in Haft.

Nach der U-Haft folgten zwei Entwöhnungstherapien, die leider, trotz großem Veränderungswillen, nicht erfolgreich waren. Das führte sowohl bei mir als auch in meinem Umfeld zu einer großen Enttäuschung. Für mich ein Grund, wieder zu konsumieren, um das erneute Versagen, nicht mehr fühlen zu müssen. Ich geriet in einen Strudel aus „immer wieder Versagen“ trotz bester Vorsätze und einem nicht genügen, dazu kam die Kriminalisierung und Stigmatisierung, besonders im Gesundheitssystem.

Heroin war für mich wie ein Medikament – aber es ist ja illegal… Dennoch habe ich irgendwann meine Abhängigkeit akzeptiert. Der Konsum ist zwar Schei..e, aber ich lebe und genieße auch gerne. Wie kann ich diese beiden Dinge übereinbringen ? In der zweiten Therapie gab es ziemlich viele Drehtürpatienten, die immer wieder die Entwöhnung durchliefen und niemand hat sich darüber gewundert oder nachgefragt, warum es nicht geklappt hatte mit der UNabhängigkeit.

Also habe ich recherchiert und habe so die JES Selbsthilfe gefunden. Da habe ich Leute kennengelernt, die gesagt haben, ja, ich nehme illegalisierte Substanzen und das ist auch gut so. Die Leute da haben trotz ihres Konsums ein sozial, gesellschaftlich, gesundheitlich und finanziell akzeptablen Umgang und eine Stabilität damit gefunden. Durch diese Akzeptanz, meine Reflexion und auch das Sehen und Empfinden, wurde meine Schuld weniger. Ich hatte gemerkt, dass ich durch die Psychiatrie nicht abgeholt werde.

Ich kann meinen Konsum inzwischen als verzweifelten Versuch der Selbstmedikation sehen, denn ich wäre sonst nicht mehr hier. Durch meine Diagnose vor 6 Jahren konnte ich schließlich noch mehr Akzeptanz gewinnen, weil ich erkennen konnte, was die einzelnen Stellschrauben sind, was mich zum Konsum gebracht hat und was mir gefehlt hat. Die Akzeptanz war ein ganz großes Tool für mich, meine Schuld nicht mehr so streng zu sehen und sie schließlich auch abzulegen. „Ich bin eine Überlebende! Ich bin nicht schuld an meiner Krankheit.“

Ich bin froh durch die Selbsthilfe für mich auch einen Weg gefunden zu haben, und freue mich auch für euch Eltern, dass ihr euch gefunden habt – ein gegenseitiges Stützen und eine verlässliche Gemeinschaft! Mein Rat an euch Eltern: Keiner von euch trägt die Verantwortung für die Sucht Eurer Kinder – Auch Eure Kinder nicht. Davon bin ich fest überzeugt und ich glaube, wenn keine Abstinenz möglich ist, das ist ja nun mal leider manchmal so, dann werden diese Leute nirgendwo abgeholt – durch kein Programm, keine Behandlung, keine Rentenversicherung, keine Krankenversicherung, durch nichts und niemanden, außer durch eine akzeptierende Selbsthilfe.

Fazit: Die Akzeptanz ist ein wichtiger Schritt im Umgang mit unseren Schuldgefühlen. Akzeptanz ermöglicht, sich selbst zu vergeben und weiterzumachen, anstatt in Schuldgefühlen stecken zu bleiben. Mit dem Wachsen der Akzeptanz wird die Schuld kleiner! Das Ziel sollte daher erst einmal sein, sich selbst zu akzeptieren. Susanne


„Wir empfinden Schuld und Scham, wenn wir den gesellschaftlichen Mustern nicht entsprechen.“ Christine

Schuld: Schuldzuweisungen sind häufig rückwärtsgerichtet und lösen nichts, sondern führen zu weiteren Verhärtungen. Am schwersten zu ertragen sind Selbstvorwürfe, die wir als Mütter nur zu gut kennen. Im Innersten ist da stets dieser Restzweifel: „Gab es nicht doch irgendetwas, was ich übersehen habe oder wo ich mich meiner Meinung nach anders hätte verhalten sollen? Wann habe ich angefangen über mein Kind zu urteilen? Was habe ich dadurch ausgelöst?“

Scham: Das ganze Thema Sucht ist auch für uns Eltern – wie vermutlich für alle Beteiligten – hochgradig schambeladen. Wir lernen im Laufe unseres Lebens, was als angemessen oder unangemessen, akzeptabel oder inakzeptabel angesehen wird und entwickeln entsprechende Schamreaktionen. Wer von uns ist nicht mit diesem Rollenmuster aufgewachsen? Wir übertragen leicht die gesellschaftlich erlernten Muster auf unsere eigene häusliche Situation.

Scham entsteht zum Beispiel leicht durch Vergleiche mit anderen oder durch den ständigen Erwartungsdruck, im Grunde von allen Seiten. Sie ist ein komplexes Gefühl, welches auf einer Reihe von Ängsten und auch auf viel Unwissenheit basiert sowie dem Gefühl, ganz alleine damit zu sein. Wir leben in dem Glauben, wir müssten diesen Teil unseres Lebens und unserer Familie verstecken, um möglichst nicht aufzufallen und nach außen zu funktionieren.

Akzeptanz: Das Gefühl der Scham lässt sich durch Akzeptanz sogar in Stärke umwandeln. Das Ziel von uns allen sollte ein selbst bestimmtes und zufriedenes, glückliches Leben sein! Abstinenz ist dabei immer noch ein absolutes Mantra in unserer Gesellschaft, das aber leider auch nicht durch wirkliche Erfolge punkten und überzeugen kann. Von außen erscheint es eher als ein Kampf gegen Windmühlenflügel.

Unfreiwillige oder aufgezwungene Maßnahmen führen jedoch in den seltensten Fällen zu einem glücklicheren Leben. Wie schön wäre es, möglichst vielen Menschen dafür die Augen zu öffnen, wie sie einen höheren Zustand der Akzeptanz für ihre individuelle eigene Lebenssituation erreichen können. Auf diesem Weg kann akzeptierender Konsum, kontrolliert und bewusst, idealerweise mit einer Reduktionsabsicht verbunden, viel Frustration und Leid ersparen für alle Beteiligten. Christine