Sucht und psychische Erkrankung = Doppeldiagnose – und was das für die ganze Familie bedeutet.
Wir stellen in unseren Elternkreisen immer wieder fest, dass das für alle Beteiligten eine der größten Herausforderungen ist! Wo findet man Hilfe und eine passende Anlaufstelle und Behandlung für sein Kind?
Die Schwierigkeit liegt darin, dass der Focus oft entweder auf der Sucht oder der psychischen Erkrankung liegt. Anja beschreibt uns ihre Erfahrungen, Gedanken und Learnings.
Interview mit Anja:
Wann und wie hast du gemerkt, dass mit deinem Sohn etwas nicht stimmt?
Mein Sohn hat mit 13 Jahren begonnen, Cannabis zu konsumieren, später kamen Ecstasy, Speed und ähnliches hinzu. Er hat sich langsam verändert, und wir dachten zunächst, es läge an der Pubertät oder einfach an einem seiner Rauschzustände.
Wie hatte sich dein Sohn verändert?
Mein Sohn wurde misstrauisch uns und seinen Geschwistern gegenüber. Er behauptete, wir würden ihn bestehlen, jemand hätte es auf seinen kleinen Bruder abgesehen, und er sprach von Angst vor Entführung.
Als er dann 19 Jahre alt war und sein Verhalten immer skurriler wurde, eskalierte die Situation zu Hause. Er wurde zum ersten Mal zwangseingewiesen, und erst da erfuhren wir von einer „drogeninduzierten Psychose“.
Wie hast du dich gefühlt, als du das Ausmaß der Erkrankung erkannt hast?
Als Mutter war ich besorgt über die Veränderungen bei meinem Sohn. Seine Misstrauenshaltung und Drogenabhängigkeit machten mich hilflos.
Ich kämpfte darum, ihn von den Drogen wegzubekommen, fühlte aber oft Wut und Frustration. Er hörte Stimmen, erzählte uns von Ausserirdischen, die ihn verfolgen u.s.w.
Schließlich musste ich mir eingestehen, dass mein Kind „wahnsinnig“ geworden ist.
Mit wem konntest du darüber sprechen?
Nur mit wenigen Menschen aus der Familie und Freundeskreis. Wir mussten uns auch erklären, denn auch wir hatten uns verändert. Diese Krankheit ist schwer zu verstehen ist und trifft oft auf Unverständnis.
Wir hatten Sorge vor Stigmatisierung aufgrund der vielen negativen Medienberichte über psychisch kranke Menschen, die Straftaten begangen haben.
Zudem waren wir uns bewusst, dass Nachbarn, Freunde und Bekannte über das seltsame Verhalten meines Sohnes geredet haben.
Welche professionellen Stellen haben euch unterstützt?
Anfangs habe ich die Jugend- und Drogenberatung aufgesucht, jedoch scheiterte dies an der mangelnden Mitarbeit meines Sohnes. Hinzu kam, dass es kein Behandlungskonzept für Doppeldiagnosen gab, weil entweder die Sucht oder die Psychose im Focus war.
Mein Sohn wurde irgendwann wegen Fremd- oder Eigengefährdung in die Psychiatrie eingewiesen. Für jegliche Hilfe aus dem Hilfesystem war es essenziell, dass er abstinent blieb und seine Medikamente einnahm. Dies konnte er jedoch nicht einhalten. Die Situationen wurden im Laufe der Zeit immer brenzliger, denn plötzlich waren wir als Eltern der Feind. Mein Sohn wurde dann nur für wenige Tage bis Wochen in die Klinik zwangseingewiesen, meist im Beisein der Polizei, des Ordnungsamtes und des Notarztes.
Und dann, wenn für sich selbst oder andere keine Gefahr zu sehen war, ebenso psychotisch wieder entlassen.
Wir fühlten uns damals sehr alleingelassen und hoffnungslos ausgeliefert. Erst als er mich schwer verletzt hat und die Justiz eingreifen musste, wurde er schließlich untergebracht und wird nun behandelt.
In der Zwischenzeit habe ich selbst professionelle Hilfe in Anspruch genommen und einen Elternkreis gefunden. Später bin aktiv in die Selbsthilfe gegangen.
Waren noch normale Gespräche mit deinem Sohn möglich?
Am Anfang seiner Diagnose waren noch normale Gespräche möglich, jedoch verläuft eine Psychose in Schüben. Während seiner Schübe war es nahezu unmöglich, ein normales Gespräch mit ihm zu führen. Nach jedem Schub, und diese traten immer häufiger auf, blieben jedoch Symptome (Minussymptomatik) zurück, sodass mein Sohn sich immer weiter zurückzog, autistische Verhaltensweisen annahm und sowohl antriebslos als auch überaktiv war. Mittlerweile warte ich auf den Moment, bis er in der realen Welt ist, die sogenannte Schnittstelle. Erst dann kann ich endlich wieder normal mit ihm sprechen. Diese Schnittstellen halten aber nicht sonderlich lange an. Manchmal nur wenige Minuten, kann aber auch mal ein paar Tage sein. Leider ist dies jedoch selten geworden. Ein Großteil der Gespräche dreht sich um seinen Wahn. Dann redet er ohne Punkt und Komma auf mich ein. Das ist allerdings auch der Moment, wo ich dann hergehe, und das Gespräch beende. Es ist mir einfach zu anstrengend und macht mir regelrechte Kopfschmerzen.
Wie hat sich euer Verhältnis entwickelt?
Unser Verhältnis war turbulent und wechselhaft, als ob wir auf einer Achterbahn wären. Als er mich schwer verletzt hat, haben wir über ein Jahr lang keinen Kontakt gehabt. Ich wollte es nicht so, aber er befand sich zu der Zeit in einer intensiven Psychose. Mittlerweile haben wir jedoch beide erkannt, dass wir uns voneinander lösen müssen. Ich bin zwar seine Mutter und werde ihn immer lieben, aber ich bin nicht mehr für seine Versorgung und Erziehung verantwortlich, da er längst erwachsen ist.
Was hat diese schwierige Situation mit dir gemacht?
Die Situation hat mich stark belastet und verschiedene psychische Symptome hervorgerufen. Ich fühlte mich oft krank und hatte mit Depressionen zu kämpfen. Meine Gedanken waren ständig von Sorgen und Ängsten geprägt, was zu Schlaflosigkeit führte. Ich konnte kaum noch abschalten und hatte häufig Katastrophengedanken, was meine Angst und Panikattacken verstärkte. Die Situation hat auch zu einer Ehekrise geführt, da ich kaum noch in der Lage war, mich auf andere Dinge zu konzentrieren, mich emotional zurückgezogen habe und sich alles nur noch um unser Sorgenkind drehte.
Was ist/war deine Hoffnung für die Zukunft?
Früher war meine Welt von Hoffnungslosigkeit erfüllt und die Aussicht auf die Zukunft erschien düster. Ich fühlte mich verloren und hatte kaum Anhaltspunkte, um das Leben zu akzeptieren. Doch heute kann ich sagen, dass ich mein Leben endlich annehmen konnte und es für mich von unschätzbarem Wert ist.
Ich wünsche mir, dass alle meine Söhne ein Leben voller Freude und Glück führen können, ein Leben, das es wert ist, gelebt zu werden. Ich wünsche meinem erkrankten Sohn von ganzem Herzen, dass er seine Krankheit genauso akzeptieren kann, wie ich es getan habe. Denn in der Akzeptanz liegt die wahre Stärke, die uns befähigt, das Beste aus unserem Leben zu machen.